Internetkinder, Digitalisierung, neue Technologien

»Wir Internetkinder« Interview mit Julia Peglow

Julia Peglow arbeitet als Speakerin und Autorin, schreibt Bücher, eine t3n-Kolumne über das Leben im Digitalzeitalter und für ihren Blog »diary of the digital age«. Sie unterrichtet außerdem als Dozentin.

Julia Peglow

2021 erschien ihr Buch »Wir Internetkinder – vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation« im Verlag Hermann Schmidt.

Können Sie kurz beschreiben welche Strukturen aus früheren Zeiten uns und unsere Arbeit noch heute im digitalen Zeitalter einschränken und warum?

Was wir uns selten bewusst machen: Wir laufen in der gegenwärtigen Welt natürlich immer in Strukturen der Vergangenheit herum. Das betrifft die physische Welt, in der Architektur, alten Gebäuden, die mit neuen Inhalten bespielt und genutzt werden; aber auch die Strukturen in unseren Köpfen, Unternehmensstrukturen, die noch aus der Zeit der Industrialisierung stammen. Diese sind durch Organisationsprinzipien geprägt, die den flexiblen, agilen Arbeitsmethoden unserer Zeit oft zuwiderlaufen: siloartige Abteilungen, die sich häufig gegenseitig bekämpfen, starre Hierarchien und Befehlsketten und entsprechende Wissens- und Machtverteilung.

Man könnte es auch so sagen: Während die Welt auf ihrer Flugbahn mit exponentieller Beschleunigung in die Zukunft rast, stecken wir in unserer Arbeit, in den Unternehmen, in Strukturen fest wie vor einhundert Jahren.

Wie sollten wir in Ihren Augen die Arbeitswelt und den Umgang mit unseren digitalen Tools auf eine sinnvolle und nachhaltigere Weise umgestalten? Woran scheitert es Ihrer Meinung nach aktuell?

Wir haben neue Tools, neue Aufgaben – und versuchen diese mit den alten Strukturen der Organisation und Zusammenarbeit zu lösen.

Treffen beide aufeinander, die alten, starren Strukturen, das liquide Wissen in Form von Daten und die neuen, digitalen Tools, kommt es unweigerlich zum Culture Clash. Und dies führt auch zu diesem Gefühl der Zerreißprobe und des Kraftakts, das so viele Menschen in den Unternehmen in unserer Zeit empfinden.

Sollten Ihrer Ansicht nach die Arbeit und das Leben weniger getrennt werden und warum? Wie könnte eine alternative Arbeitskultur und damit auch unser Alltag aussehen der besser in das digitale Zeitalter passt?

Ich habe »Wir Internetkinder« 2017 angefangen zu schreiben, vor der Pandemie, und hab mich damals gefragt: Warum machen wir das eigentlich? Fahren jeden Tag ins Büro, nur um dann den ganzen Tag Mails zu checken und online zu sein? Sitzen in sinnlosen Business-Meetings (für die wir manchmal sogar in andere Städte oder Länder fliegen), in denen dann alle nur durch ihre Mails scrollen und nicht wirklich miteinander reden. Da herrschte ein unhinterfragter »Anwesenheitsfetisch«, bei dem es manchmal nur darum ging, den eigenen Körper an den Ort zu tragen, den einem der Kalender zuwies. Während der Pandemie ist das Pendel situationsbedingt ins andere Extrem geschwungen: Wir waren nur noch abwesend, eben »remote«, und sind uns gar nicht mehr begegnet.

Aber die Pandemie hat uns auch den nötigen Anschub verliehen, aus unseren alten Gewohnheiten der sinnlosen körperlichen Anwesenheit auszubrechen. Das richtet den Fokus weg von politischen Dominanz- und Machtspielen im Büro und in den Hinterzimmern und eröffnet neue Chancen, für Frauen, die Vereinbarkeit von Arbeit und Familienleben. Die Pandemie hat uns aber genauso gezeigt, welche Themen und Anlässe eben die Energie eines echten Zusammentreffens brauchen.

Jetzt kennen wir also die ganze Bandbreite. Wir sollten jetzt also nicht wieder in eine Entweder-Oder-Diskussion verfallen, entweder Office oder Homeoffice – aus irgendeinem Grund neigt der Mensch oder die öffentliche Debatte immer zu diesem binären Denken. Sondern von Fall zu Fall überlegen und kluge, flexible Lösungen aufsetzen, was in welcher Situation und für welche Art der Arbeit Sinn macht. Mit dem Ziel einer produktiven, kooperativen und kreativen Zusammenarbeit. Und dass die Arbeit zum Leben passt. Und nicht umgekehrt.

Welche Rolle können Gestalter*innen dabei spielen?

All diese neuen Arbeitsweisen, Formate der Zusammenkunft, Strukturen, Wissenskreisläufe und intelligenten Kreativprozesse, die dazu dienen, im Wissenszeitalter neue Ideen zu fördern und Innovation hervorzubringen, müssen gestaltet werden! Designer:innen müssen aufhören, sich über ihre End- und Medienformate zu definieren, die sie gestalten: Plakate, Produkte, Interfaces. Stattdessen gilt: Think process, not product! Experience Design oder Design Thinking waren schon erste neue Ansätze, die zeigen, wozu Design in der Lage ist: Mit dieser einzigartigen Denkweise tief in die Strukturen einzudringen und in der Lage zu sein, alles zu gestalten: Prozesse, Strukturen oder ganze Organisationen zum Beispiel. Hier liegt die Zukunft von Design.

Wie haben sich speziell die kreative Arbeit und kreative Schaffensprozesse im digitalen Zeitalter verändert? Kann man Ihrer Ansicht nach in Zeiten des Internets wirklich noch Neues erfinden?

Gerade in Bezug auf Kreativprozesse haben wir in den letzten Jahren tatsächlich einen extremen Ausschlag des Pendels in Richtung »Schwarm-Kreation« erlebt: der erste Schritt im Kreativprozess ist oft einer in den kollektiven Bilderpool des Internet, der sich aus dem Schwarm speist: Google-Bildersuche, Pinboards auf Pinterest und Insta-Trends sind allesamt öffentliche Formate. Auf diese Art und Weise bedeutet Kreation im Digitalzeitalter, dass alles Vorhandene immer wieder neu angeordnet und gesampelt wird, aber nie etwas wirklich Neues entsteht. Das ist mit ein Grund, warum sich Designs in allen Disziplinen auf dem ganzen Planeten immer mehr gleichen, egal ob Craft Beer Brands, Corporate Design für Start-Ups oder Automotive UX Design. Und wenn man ganz gemein ist, könnte man auch sagen, dass diesen Job des Samplings ja eigentlich auch eine Künstliche Intelligenz erledigen könnte – die Kreativen hätten sich so über Kurz oder Lang selbst abgeschafft.

Was uns auf Grund dieser permanenten, kollektiven, Öffentlichkeit der digitalen Medien total abhanden gekommen ist, ist die Privacy der eigenen Gedankenwelt. In sie ziehen wir uns zurück, um aus unseren ureigenen Assoziationen, Vorstellungen und Erinnerungen einen ersten, zarten Keim einer Idee zu skizzieren; ich behaupte, nur so kann eine wirklich originäre, neue Idee entstehen.

Doch natürlich ist Kreativität auch im Digitalzeitalter möglich! Um sie zu ermöglichen, geht es auch diesmal nicht um ein Entweder-Oder, sondern darum, die Bandbreite zwischen Publicity und Privacy zu erkennen und dem Kreativprozess ganz bewusst zum richtigen Zeitpunkt das zukommen zu lassen, was er braucht. Am Ende wabert der Prozess in diesem Spannungsfeld hin und her: am Anfang konzentrierte Privacy, im nächsten Schritt vielleicht inspirativen Austausch im Team, dann wieder ein Rückzug in die konzentrierte Privacy, bis hin zum Austausch mit einer breiteren Öffentlichkeit. Beides ist wichtig, um neue Ideen zu entwickeln. Aber alles zu seiner Zeit.

Wenn es um neue Technologien wie »Big Data, KI Cloud Computing, Autonomes Fahren und Augmented Reality« und ihre Use Cases im Leben der Menschen geht, schreiben Sie, dass wir automatisch davon ausgehen, das Leben der Technologie anzupassen und nicht umgekehrt (S. 33/34). Können Sie beschreiben wie eine Realität für Sie aussehen könnte, in der die Technologien optimal an unser Leben angepasst sind und uns auf sinnvolle Weise unterstützen?

Es kommt eben darauf an, welche Frage man jedem Prozess zu Grunde legt, welcher Maxime wir folgen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass unsere Herangehensweise immer genau falsch herum ist: Wir haben hier diese neue Technologie, zum Beispiel eine AR-Brille – und fragen uns, was Anwendungsmöglichkeiten im Leben sein könnten? Statt dass wir uns fragen, wie wir eigentlich leben wollen. Wie wir eigentlich ein gutes, verantwortungsvolles Leben führen können. Und daraus Technologien entwickeln, die uns dabei helfen können.

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